rhobeta. text & ideentransfer • Regina Bärthel •
Hermann-Hesse-Straße 20 • D-13156 Berlin • fon:
+49 30_69 52 87 64 • mobil:
+49 173_5 71 67 82
Eine liebe Bekannte erzählte mir kürzlich eine absurd-tragische Geschichte: Ein Mann wurde von einem Hamster in den Zeigefinger gebissen. Nun denn, shit happens könnte man hier meinen, doch wer bedenkt, wie sensibel und voller Nervenenden die Kuppe eines Zeigefingers ist und wie lang und spitz Hamsterzähne sein können, ahnt, was dann geschah. Reflexhaft und aus reinem Selbstschutz schüttelte der Mann seine Hand mit einer rabiaten Bewegung, der Hamster löste sich, flog – und kollidierte mit, ja kollabierte an der Zimmerwand. Schlimm genug für den Hamster wie auch für das Karma des Mannes, doch dem nicht genug: Der Mann war Tierarzt, der Hamster sein Patient.
Die Geschichte lässt mich nicht los. Da ist ein Mensch, der sich
aufgrund persönlicher Neigung und mithilfe eines langwierigen,
anspruchsvollen Studiums einer wichtigen Sache verschrieben hat:
Der Heilung kranker Tiere. Und da ist der Mensch, in dessen
tiefstem Inneren all diese – man möchte fast sagen: animalischen –
Instinkte verwurzelt sind, die unsere Spezies seit Jahrtausenden
vor Gefahr und Unbill schützen.
Dieses kleine Ereignis zeigt: Ein unerwarteter Schmerzimpuls, die
Furcht um die eigene Unversehrtheit kann zu impulsiven
Abwehrreaktionen, zu unerbittlichen Handlungen führen. Hier bleibt
kein Raum für Reflexionen wie „Wenn ich meine Hand zu stark bewege
ist der Hamster des Todes“. Möchte man es auf die böse Spitze
treiben, könnte man sagen: In jedem von uns hoch kultivierten und
reflektierten menschlichen Wesen steckt eine wilde Bestie, die
weder Tod (anderer Individuen) noch Teufel scheut, um sich selbst
zu schützen. Davor bewahrt im Zweifelsfall nicht einmal der
hippokratische Eid noch andere hochnoble Einstellungen.
Wie die französische Autorin Yasmina Reza in ihrem Theaterstück
„Gott des Gemetzels“ mit ausgefeilter Beobachtungsgabe und viel
bösem Humor gezeigt hat, gilt dies nicht nur, wenn es um Leib und
Leben geht. Hinlänglich bekannt lässt Reza in ihrer
Gesellschaftssatire zwei gutsituierte Paare aufeinander treffen,
die eine Prügelei ihrer Söhne in aller Zivilisiertheit bereinigen
wollen. Ebenso bekannt: Das gut gemeinte Gespräch mißlingt, ja
zerschellt – wie der Hamster an der Wand – an Pedanterie,
Heuchelei und vermeintlich verborgenen persönlichen
Verwundbarkeiten. Im Verlauf der Auseinandersetzung demontieren
die Protagonisten sich selbst ebenso wie ihre aufgesetzte
diskursive Kultiviertheit. Denn auch das In-Frage-Stellen
persönlicher Lebensentwürfe und Welterklärungen oder der eigenen
moralischen Integrität können den erstaunlich dünnen Firnis der
menschlichen Zivilisation durchstoßen. Der Mensch neigt dann zu
unüberlegten Handlungen, die von kindisch-absurd bis höchst
aggressiv reichen.
Übrigens führt auch Reza einen Hamster in das Stück ein, der von
Vater Michel gnadenlos auf den kalten, gefährlichen Straßen von
Paris ausgesetzt wird, da Michel sich nächtens vom Marathon im
Hamsterrad gestört fühlt …
Werfen wir also noch einmal einen Blick auf den Tierarzt:
Studierter Mediziner, tierlieb – mit Sicherheit kann man ihm ein
gerüttelt Maß an Zivilisiertheit unterstellen. Doch dann dieser
Moment des Angriffs auf seine Unversehrtheit; spitze Nadeln bohren
sich in sein Fleisch, treffen auf sensibelste Nervenenden.
Umgehend übernimmt das urwüchsige Stammhirn die Kontrolle über
seine Reaktionen. Und das Stammhirn sagt: Du wirst angegriffen.
Wehr Dich. Pein Deinem Peiniger! Tode dem Zerstörer!
Das mag jetzt etwas wagneresk klingen, trifft aber auf diese
instinktiven, triebgesteuerten Millisekunden zu. Und der Hamster
trifft auf die tödliche Wand.
Wäre der vom Finger des Tierarztes ausgelöste Schmerzimpuls nicht
ungefiltert im Stammhirn, sondern mit einiger Verzögerung im
reflektierenden Großhirn gelandet, hätte der Tierarzt Zeit zum
Abwägen gehabt: „Aua. Es schmerzt. Der Hamster hat mich in den
Finger gebissen. Es schmerzt erstaunlich stark. Aber er hängt noch
dran, der Hamster – und wenn ich ihn jetzt ruckartig abwerfe...“
Sie wissen schon. Ein Moment der Distanz zum unmittelbaren Trigger
hätte dem Tierchen das Leben gerettet. Und kein hamstergroßes Loch
in das Karma des Tierarztes gerissen.
Wie aber steht es um den Hamster? Ethisch-moralische Reflexionen
sind ihm wohl kaum abzuverlangen. Dem Tier darf man sicherlich den
instinktiven Schutz von Leib und Leben zugestehen – und eben
dieses sah er (wenn auch fälschlicherweise) durch die große,
zupackende Hand bedroht. Was ihn dann durch diese Verkettung
tragischer Missverständnisse das Leben kostete.
Schaut man sich nun das menschliche Miteinander an, drängt sich bisweilen die Frage auf, wieviel Hamster in uns allen steckt. Meinungsfreiheit und Diversität, allenthalben als eine große Errungenschaft unserer Zivilisation verehrt, stoßen oft genug an ihre Grenzen. Ein reflektierendes Abwägen unterschiedlicher Auffassungen werden kaum noch als Stationen auf dem Weg zur Erkenntnis betrachtet; vielmehr hat das Diskreditieren anderer Meinungen und Interpretationen Hochkonjunktur. Diese anderen Meinungen werden als Angriffe verstanden, lösen Gegenwehr sowie Angst um Leib und Leben aus – oder zumindest auf die Angst, mit der eigenen Meinung, dem individuellen Lebensstil eventuell doch nicht „richtig“ zu liegen? Doch Angst fördert Aggression und schon befindet man sich in einem immerwährenden Teufelskreis, der – mit ein wenig Distanz betrachtet – sich doch eigentlich nur als Hamsterrad erweist. Mit leider oft verheerenden Folgen nicht nur für die Integrität des Individuums, sondern oft genug auch für die Errungenschaften unserer Zivilisation, darunter Meinungsvielfalt und Selbstbestimmung. Und letztendlich auch für unsere Demokratie.